Durch unsere Ignoranz verpassen wir viele spannende Ideen, die in China bereits heute Realität sind.
Disruptive China Briefing - erschienen im Handelsblatt am 19. November 2020.
Die Corona-Pandemie scheint überwunden. Zwar gibt es hier und da noch kleinere Ausbrüche. Aber die werden schnell und konsequent eingedämmt. Das Virus hat keine Chance echte Hotspots zu bilden und das Leben kehrt in eine wachsame Normalität zurück. Masken braucht man kaum noch und die Einschränkungen der letzten Monate sind zum großen Teil schon eine Weile aufgehoben.
Was wie ein Blick in eine aktuell recht ferne Zukunft klingt, beschreibt die Gegenwart. Jetzt. Allerdings nicht hier, sondern in weiten Teilen Ost-Asiens. Denn dort beherrscht die Pandemie schon lange nicht mehr so das tägliche Leben, wie bei uns. Eine zweite Welle ist nicht in Sicht und wenn sie kommen würde, träfe sie auf gut vorbereitete Gesellschaften. Das Virus hat dort weitgehend seinen Schrecken verloren. Lock-Downs oder ähnlich radikale Maßnahmen scheinen nicht mehr notwendig zu sein.
Nur ist das kaum jemandem hierzulande bewusst.
Denn wir vergleichen uns fast ausschließlich mit unseren europäischen Nachbarn oder den USA und haben dadurch den Eindruck, dass Deutschland bisher gut durch die Krise gekommen wäre — trotz mehr als 10.000 Toten und hunderten Milliarden Euro volkswirtschaftlichen Schadens. Doch dieser Eindruck täuscht. Wie sehr wird deutlich, wenn man sieht, dass ein Land wie Südkorea insgesamt gerade einmal etwa doppelt so viele Corona-Tote wie allein Hamburg hat — aber fast 30 mal so viele Einwohner.
Ein Vergleich mit asiatischen Ländern würde zum Beispiel zeigen, dass es den bei uns oft diskutierten Zielkonflikt zwischen Gesundheit und Wirtschaft nicht gibt. Anhand der Daten sieht man eindeutig, dass Länder die ihre Bevölkerungen effektiv vor dem Virus schützen, gleichzeitig ihre Volkswirtschaften vor katastrophalen Schäden bewahren.
Wer dies verstanden hat verfolgt ein klares Ziel: jede Infektion soll vermieden werden. Aber nicht trotz hoher wirtschaftlicher Kosten, sondern im Gegenteil — um diese zu vermeiden. Doch die westlichen Länder tun sich mit dieser Erkenntnis nach wie vor schwer. Dabei werden die in der zweiten Welle immer deutlicheren Unterschiede bei Kompetenz und Effektivität im Umgang mit der Pandemie die Welt nachhaltiger verändern, als uns das aktuell bewusst ist.
Prozesse, die 10 Jahre gedauert hätten, vollziehen sich nun eher in 10 Monaten und verstärken schon länger vorhandene Entwicklungen in ihrer Wirkung. Erst letzte Woche schlossen sich nach 8 Jahren Verhandlungen 14 asiatische Länder - darunter China, Japan, Südkorea und auch Australien - zur weltgrößten Freihandelszone zusammen. Als nächstes könnten sogenannte Travel-Bubbles zwischen den Ländern folgen, die die Pandemie in den Griff bekommen haben - Reisefreiheit für Asiaten, Quarantäne für uns.
Nach und nach entstehen so ganz neue Strukturen, die der Westen nur noch zur Kenntnis nehmen, aber nicht mehr bestimmen kann. Das Virus und unser hilfloser Umgang damit erodieren unsere Stellung in der Welt: wer so viel schlechter bei der Bewältigung der Krise ist, dessen Produkte & Services sind vielleicht auch nicht mehr so viel besser, wie man bisher immer dachte…!?
Gleichzeitig könnten wir von Asien lernen, wie es besser geht. Das müssen nicht unbedingt drakonische Maßnahmen sein, für die es bei uns vermutlich keine Akzeptanz gäbe, sondern ganz praktische Dinge, wie z. B. eine auf Superspreading-Events optimierte Kontaktverfolgung oder wie wichtig das frühzeitige und konsequente Tragen von Masken gewesen wäre. Doch gerade das Beispiel Maske zeigt, wie westliche Gesellschaften auf Ideen aus Asien allzu oft reagieren: zunächst mit Ignoranz, dann mit reflexartiger Ablehnung.
Warum ist das so?
Zum Teil resultiert dies aus der Tatsache, dass wir Asien fälschlicherweise oft mit China gleich setzen und vieles was aus China kommt, grundsätzlich ablehnen. Doch dabei ist sowohl diese Gleichsetzung, als auch die pauschale Ablehung Chinas wenig sinnvoll.
Der Charakter des Regierungssystems oder das Vorgehen der chinesischen Führung an Orten wie Hongkong, Tibet und Xinjiang — natürlich gibt es aus unserer Sicht viele Argumente, warum man China skeptisch gegenüber stehen kann. Doch wenn man fair sein will, sollte man bei aller berechtigter Kritik zwischen dem Regime auf der einen und der Bevölkerung auf der anderen Seite differenzieren.
Oft wird China aber auch negativ gesehen, weil wir im Westen mit dem Land immer noch das Bild einer großen Kopiermaschine verbinden, die mit hohem Tempo unser Know-how in Plagiate minderer Qualität verwandelt. Ein Problem, das es auch heute durchaus noch gibt. Doch gleichzeitig ist China uns in vielen Zukunftsbereichen inzwischen so weit voraus, dass eher wir auf das Wissen aus Asien angewiesen sind. Wie sehr dies der Fall ist, zeigt die Diskussion um 5G Technologie. Vor gerade mal 20 Jahren wurde das erste Mobilfunknetz in China noch von Siemens aufgebaut. Heute sind wir kaum mehr in der Lage wichtige Teile unserer digitalen Infrastruktur ohne chinesische Komponenten zu realisieren.
Ähnlich wie beim Thema Pandemie-Bekämpfung ist uns aber auch hier oft gar nicht bewusst, wie weit wir wirklich zurückliegen und das hat in beiden Fällen den gleichen Grund. Auch für Innovationen vergleichen wir uns in unserer Länder-Peer-Group und schauen für neue Entwicklungen primär in die USA. Doch wer dies tut, verpasst viele spannende Ideen, die in China bereits heute Realität sind: zum Beispiel eine grundlegend neu gedachte Integration von Online- und Offline-Handel, die gleichzeitig dafür sorgt, dass kleine Einzelhändler mit dem Internet Geld verdienen und Kunden ihre Bestellungen innerhalb von Minuten ausgeliefert bekommen. Oder AI-Systeme, die ganz selbstverständlich Schäden für Versicherungen regulieren und in mobilen E-Health-Stationen Diagnosen für Patienten erstellen.
Während wir davon wenig mitbekommen, studiert man in China den Westen sehr genau, auf allen Ebenen der Gesellschaft: von der Partei, über Lokalregierungen und Firmen bis hin zu vielen einzelnen Bürgern. Alle haben dabei das gleiche Ziel: lernen. Die Folge ist ein Phänomen, das man „asymmetrische Ignoranz“ nennen könnte — in China weiß man alles über uns, während wir noch nicht mal wissen, was wir über China nicht wissen.
Und daraus entstehen zunehmend Wettbewerbsnachteile, die immer mehr Unternehmen und Branchen betreffen — auch solche, die bisher keinen Kontakt zu China hatten und auch in absehbarer Zeit keinen haben werden, aber trotzdem viel von dort lernen könnten.
Genau dieses Lernen möchten wir voran treiben und starten deshalb heute das „Disruptive China Briefing“.
Mit einem Fokus auf digitale Innovationen wird das Briefing über Entwicklungen in China, hin und wieder auch Asien insgesamt, berichten, die für uns relevant sind. Dabei soll es die nächsten Wochen um Themen wie diese gehen:
Single’s Day 2020 — welche neuen Entwicklungen prägten das global wichtigste Shopping-Festival in Zeiten von Corona?
Ant Group — was lässt sich vom innovativsten FinTech-Unternehmen der Welt über den erfolgreichen Aufbau neuer Geschäftsmodelle und “Sustainable Innovation” lernen?
Xunxi — was ist das Besondere an Alibabas Konzept für eine digitale Fabrik, das Industrie 4.0 konsequent zu Ende denkt?
Ziel ist es zu verstehen, was dies alles für uns bedeutet und wie wir das Wissen hier im Westen nutzen können — nicht zuletzt auch, um das Problem der „asymmetrischen Ignoranz“ schrittweise zu lösen. Dies sicher nicht kritiklos, aber durchaus unvoreingenommen…